Ich möchte in diesem Artikel der Einfachheit halber die Bezeichnung Wing Chun als Überbegriff für verschiedene Schreibweisen wie z.B. Wing Tsun, Ving Tsun oder Wing Tzun nutzen.
Interessanterweise hat sich das in Europa verbreitete Wing Chun in den letzten Jahren einer außergewöhnlichen Entwicklung unterzogen.
Sowohl technisch als auch kommerziell.
Immer wieder ist dabei die Rede von altem, „traditionellem Wing Chun“. Als nicht traditionelles, modernes Wing Chun sind die so genannten „weiterentwickelten“ Stile einiger Verbände gemeint.
Zunächst sei gesagt, dass einer positiven Entwicklung egal welcher Art grundsätzlich nichts entgegenzusetzen ist.
Allerdings bedarf es bei der Weiterentwicklung des Wing Chun Kung Fu einiger wichtiger Grundvoraussetzungen.
Erstens bräuchte es eine realistische, physikalisch und logisch fundierte Begründung für eine Veränderung. Zweitens dürfte im sogenannten alten, traditionellen Wing Chun keine bessere Antwort zu finden sein.
TRADITIONELLES WING CHUN - PERFEKTION AUF HÖCHSTMASS!
Mit traditionellem Wing Chun ist meist der Kampfstil gemeint, den Yip Man zu seiner Zeit von 1950-1972 in Hongkong unterrichtete.
Dazu gehören z.B. die langjährigen Schüler Chu Sheung Tin, Leung Sheung, Wong Shun Leung, Ho Kam Ming, Lok Yiu.
Ganze Generationen vor uns widmeten ihr Leben der realistischen Entwicklung dieser Kampfkunst.
Zum Beispiel Wong Shun Leung, er begann 1952 als 17 jähriger unter Yip Man zu trainieren und blieb ihm bis zu dessen Tode 1972 treu.
Innerhalb dieser Zeit, im Alter von 17-32 Jahren nahm Wong Shun Leung an über 60 Vergleichskämpfen gegen andere Kampfstile teil.
Ohne jegliche Schutzausrüstung und unter Extrembedingungen verlor er keinen einzigen.
Wong Shun Leung wurde von Yip Man stark gefördert. Sie waren beide der Meinung, dass der Kampfstil Wing Chun in der Praxis funktionieren muss.
Nach einem gewonnenen Vergleichskampf wurde nicht in Euphorie gefeiert, sondern systematisch analysiert, wie es möglich gewesen wäre den Gegner noch schneller und einfacher zu besiegen und gleichzeitig das eigene Risiko weiter zu minimieren.
Akribisch wurden Wing Chun Prinzipien hinterfragt und geprüft. In dieser Zeit entwickelten Schüler und Lehrer das ohnehin ausgereifte System auf ein höchstes Maß an Perfektion.
Dieses Lebenswerk der Generationen vor uns, die teilweise unter lebensgefährlichen Bedingungen erprobt und entwickelt wurden, gilt es heute vollständig und unverfälscht eine Generation weiter zu reichen.
Wer heute eine Veränderung im Wing Chun vornehmen will, sollte sich zuvor hinterfragen, ob er das gesamte Wissen des Wing Chun unverfälscht und vollständig vermittelt bekommen hat.
Denn selbst keine passende Antwort zu kennen oder eine nicht funktionierende Technik gezeigt bekommen zu haben bedeutet nicht, dass es im Wing Chun keine direkte und funktionsfähige Antwort gäbe.
Anschließend sollte man sich die Frage stellen, wie viel praktische Erfahrung man mit seinem Wing Chun bereits gesammelt hat um es „modernisieren“ zu können.
In unserer Zeit ist die einzig realistische Erfahrung, die wir im Laufe des Lebens machen, meist eine Handvoll Auseinandersetzungen gegen alkoholisierte Diskothekenbesucher.
Eine realistische Probe unserer Wing Chun Fähigkeiten unter extremen Bedingungen wie es Wong Shun Leung, Hawkins Cheung, Wu Chan Nam und andere praktiziert haben, ist heute kaum noch denkbar.
Chisao, Gohsao und Sparring sind gute Trainingsmethoden, aber vom realen Einsatz immer noch ein deutliches Stück weit entfernt.
Wir sollten den Generationen, die für uns durchs Feuer gingen, dankbar sein.
Denn jeder der entschlossen ist erprobtes Wing Chun zu erlernen, kann heute beim kleinsten Bedenken einer nicht funktionsfähigen “Technik“ auf die Prinzipien und Strategien der Generationen zurückgreifen, die sie im realen Zweikampf perfektionierten!